Herr Kollege: Jürg Bischoff, Neue Zürcher Zeitung NZZ, Beirut
Jürg, seit einem Monat berichtest Du für die NZZ aus Beirut. Ist der Schweizer Korrespondent im Nahen Osten gelandet?
Um Dein Bild aufzunehmen: Bis jetzt hab ich als Nahost-Redaktor in Zürich den Nahen Osten täglich überflogen, nun bin ich in Libanon gelandet. Dabei muss ich natürlich aufpassen , dass ich mir den Blick über Libanon hinaus bewahre und nicht an den lokalen Schattenspielen hängenbleibe. Aber die Libanesen selbst sind sich ja sehr bewusst, dass die Lage bei ihnen auf das engste mit den weiteren mittelöstlichen Machtkonstellationen verquickt ist. Da wird man immer wieder auf das grosse Ganze verwiesen.
Lass mich raten: Das Organisieren banalster Dinge wie einer funktionierenden Telefon- oder Internetleitung braucht viel Geduld und Zeit...
Ja, es braucht Geduld. Aber es ist nicht schlimmer als anderswo in der Region. Und dass es keinen Sinn hat, beklemmt darauf zu warten, dass die Mühlen der Bürokratie sich in Bewegung setzen, hat man ja schon gelernt.
Du hast seit 2001 auf der NZZ-Redaktion den Nahen und Mittleren Osten betreut, nun bis Du der Korrespondent "draussen". Was wird von Dir erwartet, tägliche Analyse oder wirst Du selber Themen und Schwerpunkte setzen?
Nun, die erste Erwartung besteht darin, dass ich über die Entwicklung Bericht erstatte und sie dabei auch analysiere. Reportagen und umfassende Dartstellungen gewisser Themen müssen dann Aspekte des politischen und sozialen Lebens vertiefen. Wenn darin mal eine gewissse Routine da ist, werde ich hoffentlich auch Zeit haben, Themen aufzugreifen, die nicht zum politischen Standardprogramm gehören.
Die NZZ ist eines der wenigen übrig gebliebenen Referenz-Medien in Sachen Nahost-Berichterstattung. Worauf dürfen wir uns als Leser freuen: Auch vermehrt Beiträge für NZZ-Online von Dir?
Die Berichterstattung für die Zeitung geniesst natürlich erste Priorität. Wieweit ich NZZ online nützlich sein kann, vor allem wenn sich die Ereignisse überstürzen, kann ich noch schwer abschätzen. Und mit spezifischen, für den Internet-Auftritt geschaffene Beiträge, habe ich noch kaum Erfahrung. Das wird sich hoffentlich in Zusammenarbeit mit der Online-Redaktion ergeben.
Als IKRK-Delegierter warst Du bereits früher im Nahen Osten aktiv. Was hat sich seither in Deiner Wahrnehmung verändert in Deiner Berichts- Region?
Ich lernte die Region in den 80er Jahren kennen. Seither ist die sogenannte Globalisierung fortgeschritten, das heisst das Eindringen äusserer kultureller und sozialer Elemente, die in den nahöstliche Ländern wiederum nach spezifischen Mustern assimiliert werden. Dies führt aber auch dazu, dass alte Konflikte neu geladen werden oder neue entstehen. Das Ende des Kalten Kriegs hat auch in dieser Region alte Konflikte ans Tageslicht gebracht , die in der bipolaren Weltordnung nicht wahrgenommen wurden, und damit neue Fronten geschaffen (zum Beispiel die Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten).
Weite Teile der arabischen Welt begegnen US-Präsident Obama mit wohlwollender Skepsis. Denkst Du, 'yes, he can?' oder sind die Realitäten vor Ort zu komplex und festgefahren, als dass Obama mehr als ein Hoffnungsträger ist?
Alles ist in Veränderung begriffen, nur läuft diese so langsam ab, dass wir einen geschärften Blick brauchen, um darin die dominanten Strömungen zu erkennen. Was Obama betrifft, so ist es möglich, dass er dank seinem Charisma und einer Politik, die nicht wie jene seines Vorgängers von Arroganz und Aggressivität geprägt ist, das Bild vom Wesen und der Rolle Amerikas, das in der Region vorherrscht, langsam umwandeln kann. Damit besteht die Hoffnung, dass sich auch das Verhalten der lokalen Akteure ändert. Aber das ist ein langwieriger Prozess, der länger braucht als die Amtszeit eines amerikanischen Präsidenten, um seine Wirkung zu entfalten.
Kaum warst Du eingetroffen, fanden auch schon die iranischen Präsidentschaftswahlen statt. In einem ersten Kommentar sprachst Du von einem "Sieg des Populismus über die Vernunft". Lagst Du aus heutiger Sicht besehen richtig, in Anbetracht der doch überraschenden Strassenproteste rund um den inner-iranischen Richtungskampf?
Die iranischen Wahlen, ebenso wie die drauffolgenden Strassenproteste und Widersprüche im Innern des Regimes, haben die tiefe Spaltung der iranischen Gesellschaft gezeigt. Ob das Wahlresultat gefälscht wurde oder nicht, können wir Aussenstehenden nicht mit Gewissheit sagen. Aber dass Ahmadinejads populistischer Appell in seiner Politik und seinem Wahlkampf eine Mehrheit der armen Bauern und der in die Armenviertel der Grossstädte migrierten Landbevölkerung dazu gebracht hat, diesem die Stimme zu geben, erscheint mir durchaus plausibel. Siehe Chavez, Berlusconi etc. Die westlichen Medien, die praktisch nur mit Angehörigen des Mittelstands und der Oberschicht in Kontakt sind, haben sich von deren Hoffnung anstecken lassen, und sind einer Illusion aufgesessen. Und die Enttäuschung dieser Illusion hat dann zu diesen grossen Protesten geführt.
Eine gefährliche Entwicklung…
…was höchst gefährlich ist, ist dass sich Khamenei so bedingungslos vor Ahmedinejad stellt . Damit verschärft er die Gräben in der Gesellschaft wie innerhalb des Regimes. Khomeiny hatte immer versucht, solche Spaltungen zu vermeiden. Aber Khamenei hat wohl keine andere Wahl, weil er eben nicht der unbestrittene Imam wie Khomeiny, sondern eben der höchst umstrittene Führer einer zutief zerstrittenen politischen Elite ist. Ahmedinejads Stärke ist heute Khameneis Stärke; ich habe das Gefühl , dass Khamenei mehr von Ahmedinejad abhängig ist als umgekehrt.
Welche Auswirkungen könnte dieser inner-iranische Richtungskampf auf den Nahen und Mittleren Osten haben?
Das Seilziehen um Entscheidungen hat schon bisher die Effizienz des iranischen Regimes beieinträchtigt. Wenn es nun mit verschärften Richtungskämpfen beschäftigt sein wird , könnte es die Entscheidungsfähigkeit zunehmend verlieren. Für jene, die mit Iran ins Gespräch kommen wollen, dürfte es damit schwieriger werden, verbindliche Antworten zu erhalten. Das bedeutet auch, dass Machtgruppen innerhalb des Regimes, z.B. die Revolutionswächter , Geheimdienste oder Klüngel gleichgesinnter Geistlicher, eigene, untereinander widersprüchliche politische Programme durchzusetzen versuchen. In den schiitischen Gemeinschaften in der Region, könnte dies zur Entstehung analoger Gruppen führen, die sich wie ihre Sponsoren in Teheran in Machtkämpfe verwiickeln. Ein instabiler Iran würde jedenfalls auf die ganze Region eine destabilisierende Wirkung haben.
Jürg, rechnest Du nach diesem Wahlausgang mit einem israelischen Angriff auf die iranischen Atom-Anlagen?
Die Überlegung, nach diesem Wahlausgang sei der Zeitpunkt für einen Angriff auf Iran gekommen, scheint mir äusserst dumm. Ein israelischer Angriff würde der iranischen Opposition sofort den Garaus machen und das Regime zusammenschweissen. Es wäre ein Geschenk für Khamenei und Ahmadinejad.
Was wird Dich in den nächsten Wochen journalistisch beschäftigen?
Das werden wir sehen.
Die Menschenrechts-Organisatio n Huma [...]