Ägypten und die Medienarbeit
Gefragt vom Branchendienst persönlich:
In Ägypten machen Schläger Jagd auf Journalisten. Mittendrin berichtet André Marty als Sonderkorrespondent für das Schweizer Fernsehen. Im Interview mit "persoenlich.com" schildert er, wie Kollegen übel zugerichtet werden und was er selbst zu spüren bekommt. Trotzdem harrt André Marty im Krisengebiet aus. Er will damit zeigen, dass es keine Rechtfertigung für Kriege oder bewaffnete Konflikte gibt. Das Interview:
Herr Marty, Sie berichten derzeit direkt aus dem Chaos in Ägypten. Haben Sie in Ihrer Karriere schon einmal eine ähnliche Situation erlebt?
- Krisen sind immer zu einem schönen Teil undurchschaubar; das macht das Arbeiten so schwierig. Niemand hätte gedacht, dass das Regime Mubarak nach Ausbruch der Revolution unter den Kamera- und Fotoapparat-Augen der internationalen Medien Hunderte von Schlägern auf die Strasse schickt, um Jagd auf Anti- Mubarak- Demonstranten und Medienleute zu machen. Plötzlich gibt es keine erkennbaren Konfliktparteien mehr - und alle gehen auf Journalisten los. Kriegsberichterstattung aus dem Libanon oder dem Gaza- Streifen war insofern "berechenbarer", weil es in jenen Kriegen relativ klar unterscheidbare Konfliktparteien mit entsprechenden Taktiken gab.
Journalisten werden entführt, verprügelt, gejagt. Wie sieht ihr Alltag derzeit aus?
- Die Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch dokumentierte 70 konkrete Fälle von verprügelten oder verschleppten Kolleginnen und Kollegen. Eine Taktik des Regimes Mubarak, die ihr Ziel nüchtern betrachtet zumindest teilweise erreicht hat: Viele Journalisten sind abgereist. Noch heute ist das Arbeiten schwierig, teilweise unmöglich. Aus Sicherheitsgründen bewegen wir uns so wenig wie nur möglich offen auf der Strasse.
Kollegen aus der welschen und Tessiner Presse wurden von den ägyptischen Behörden festgehalten. Hatten Sie Kontakt mit den Kollegen? Wie geht es diesen und was ging in Ihnen vor als Sie davon hörten?
- Kollege Gianluca Grossi - er arbeitet für das Tessiner Fernsehen - wurde ziemlich übel zugerichtet, ganz abgesehen von seinem Equipment. Selbstredend wäre es durchaus angebracht gewesen, wenn die offizielle Schweiz und Schweizer Medienverbände deutlich Position bezogen hätten zu diesen überaus brutalen Übergriffen auf Medienvertreter. Zur Zeit sind, soweit mir bekannt, lediglich noch zwei Schweizer Journalisten in Ägypten, nämlich Pascal Schumacher für die "Rundschau" von SRF sowie ich als Reporter für die SR-Newssendungen. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir strikte, und in Absprache mit der Chefredaktion, nach dem Prinzip arbeiten: "Safety first".
Haben Sie Angst?
- Angst wäre ein sehr schlechter Ratgeber. Emotionen verführen zu unüberlegten Reaktionen, und das wäre sicherlich wenig hilfreich, wenn's wirklich brenzlig würde. Vielmehr geht es zumindest mir darum, das Restrisiko soweit als nur möglich zu reduzieren. Dazu gehört ein Sicherheitsdispositiv, und absolut blindes Vertrauen untereinander, also hier in Kairo in meinen ägyptischen Kameramann und Producer. Dann stehe ich im ständigen Kontakt mit der Schweizer Botschaft, die hervorragend arbeitet - die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind 24/24 erreichbar, und im Notfall im wahrsten Sinne des Wortes für uns Journalisten da.
Wie gehen Sie mit der heiklen Situation um?
- Realitäten wie jene in Kairo setzen sehr viel Adrenalin frei, mancherorts auch Unverständnis. Persönlich engagiere ich mich deshalb bei DART, einer Organisation von Journalisten und Psychologen. DART Centre for Journalism and Trauma vermittelt u.a. Interview-Techniken in potentiell traumatischen Situationen, wie zum Beispiel ein Verkehrsunfall oder etwa ein Brand. Dank etwas Erfahrung im Umgang mit Krisensituationen und in enger Begleitung durch meine SRF-Kolleginnen und Kollegen in Zürich ist diese Form von Journalismus durchaus vertretbar.
Wie kommen Sie derzeit zu Ihren Berichten?
- Soeben komme ich vom Drehen zurück. Nach wie vor reagieren viele Leute sehr aggressiv auf Ausländer, insbesondere Journalisten. Das ist insofern nachvollziehbar, als dass das staatliche ägyptische Fernsehen seit Tagen "ausländische Agenten" für die Demonstrationen verantwortlich macht. Deshalb wurden wir heute Vormittag denn auch von der Armee längere Zeit festgehalten. Unser Material wurde angesehen, und wir wurden ausführlich befragt. Es brauchte die Intervention eines hochrangigen Offiziers, damit uns der verantwortliche Leutnant wieder auf freien Fuss setzte.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit den übrigen Medien aus?
- Hervorragend. Kollegen helfen sich aus mit Telefonnummern, möglichen Interview-Partnern, teilen Lage-Einschätzungen, Erfahrungen und warnen nötigenfalls. Dass ich hier in Kairo verschiedenste Journalisten aus "früheren Zeiten" wieder getroffen habe, hilft natürlich.
In der "Schweizer Illustrierten" schreiben Sie von einem Anruf ihrer 7-jährigen Tochter, die Sie mit Harry Potter nach Hause fliegen lassen möchte. Was für Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf?
- Grosse britische Medien lassen praktisch ausschliesslich verheiratete Journalisten aus Krisengebieten berichten - mit gutem Grund, wie mir scheint: Als Vater oder Mutter, Ehe-Partner denken sie zwei Mal nach, ob sie sich diesem oder jenem Risiko aussetzen - eine sinnvolle Regel, die nicht nur für britische Kollegen gilt. Wir haben als Familie sechs Jahre in Nahen Osten gelebt, und ich kann Ihnen versichern, dass sich meine Familie nicht ein einziges Mal in einer unkalkulierbar gefährlichen Situation befunden hätte. Meine Familie weiss, dass sie meine absolute Priorität sind. Entsprechend arbeite ich auch jetzt in Kairo!
Bereuen Sie manchmal, dass sie sich nicht einen weniger gefährlichen Job gesucht haben? Was reizt Sie an Krisengebieten?
- Unser Beruf erfordert Engagement - sei's in Bern, Zürich oder Kairo. Journalisten sollen hinsehen und einordnen, dafür sind wir da. Wir sind jedoch keine Helden, die sich unnötigen Risiken aussetzen. Persönlich ist es meine tiefste Überzeugung, aus und über Konflikte zu berichten, um zu zeigen, dass es absolut keine Rechtfertigung für Kriege oder bewaffnete Konflikte gibt. Hier geht es nicht um "den Reiz des Krieges", den "glamour of the frontline", es geht ums Hinsehen und Vermitteln von Hintergründen.
Wann kehren Sie in die Schweiz zurück? Was werden Sie dann als erstes machen?
- Ach, machen Sie sich keine Sorgen um mich. Es geht vielmehr um nichts Geringeres als um eine Revolution, um die betroffenen Menschen, um die Zukunft der arabischen Welt und das wird auch die bisherige westliche Politik nachhaltig beeinträchtigen. Hinsehen, nicht wegzappen!