Herr Kollege: Hugo Stamm, Tages-Anzeiger, Zürich
Hugo Stamm, die jüdische Welt schäumt, viele Christen schütteln den Kopf: was mag den Papst bewogen haben, einen Holocaust-Leugner zurück in Amt und Würden zu setzen?
Der Papst ist sehr konservativ und träumt in seinem Elfenbeinturm davon, die reine katholische Lehre wieder einzusetzen. Deshalb hat er auch die lateinische Messe wieder zugelassen. In seiner Geisteshaltung ist er nicht allzu weit entfernt von den reaktionären Pius-Brüdern. Die Kirchenspaltung tat ihm immer schon weh. Ihm lag viel daran, die vier Bischöfe der Bruderschaft wieder in den Schoss der Kirche zurück holen.
Also kein Zufall, kein Missgeschick der Vatikan-Verwaltung?
Es ist kein Zufall, aber teilweise auch ein Missgeschick. Hätte der Papst geahnt, dass er mit seiner unüberlegten Handlung die grösste Krise der katholischen Kirche seit langem auslösen wird, hätte er den Pius-Brüdern vermutlich nicht die Hand gereicht. Wenn der Papst nun aber behautet, er habe von den antisemitischen Tendenzen der Bruderschaft nichts gewusst, dann ist es entweder scheinheilig oder naiv. Fünfminütige Recherchen im Internet hätten ihm den Holocaustleugner auf den Bildschirm gebracht.
Das jüdisch-christliche Verhältnis ist wieder einmal ziemlich angespannt – woher stammt dieses tiefe gegenseitige Misstrauen?
Die Juden sind laut Bibel das auserwählte Volk Gottes, Israel das heilige Land, im dem sich die Heilsgeschichte der Menschheit vollziehen soll. Doch die Juden akzeptieren Jesus, den Sohn Gottes, nicht als ihren Messias. Das ist eine tiefe Kränkung für traditionalistische oder fundamentalistische Christen. Ausserdem haben Juden von Pontius verlangt, er solle Jesus zum Tod verurteilen. Die Ressentiments halten sich seit 2000 Jahren.
In der katholischen Kirche sind verschiedenste Strömungen und Positionen vorhanden. Papst Benedikt XVI fährt einen stramm rückwärtsgewandten Kurs – eine vergleichbare radikale Religionsinterpretation wie das teilweise auch in der islamischen Welt festzustellen ist?
Die Globalisierung in allen Lebensbereichen, die Säkularisierung und Internet lösen bei vielen Menschen und Religionsführern Ängste aus. Diese führen zu reaktionären und fundamentalistischen Reaktionen. Sie verklären die alten Zeiten und sehnen sich nach alten Werten und Ordnungen zurück. Diese Strömungen gibt es im Islam und im Christentum. Wobei die Islamisten von den politischen Umständen profitieren.
Eigentlich wäre ein Papst-Besuch Anfang Mai in Israel geplant. Wird sich Papst Benedikt XVI durch die weltweiten Proteste von dieser Reise abhalten lassen?
Der Papst hat in dieser Woche reagiert und den Holocaust verurteilt. Eine Geste an die jüdische Welt. Und vermutlich ein Versuch, die geplante Reise zu retten.
Der israelische Gaza-Krieg liess Sie als Journalisten die Frage aufwerfen, wie viel eigentlich ein palästinensisches Leben Wert ist. Denke, solch‘ eine Frage brachte Ihnen harsche Antworten ein...
Die Ressentiments gegenüber dem Islam sind in der Schweiz gross. Viele Leute befürchten eine Islamisierung von Westeuropa. Rechte Parteien nutzen das Syndrom, um Stimmen zu gewinnen. Das sind absurde Verzerrungen der realen Verhältnisse. Entsprechend harte Kritik musste ich einstecken. Wir dürfen aber nicht aufhören, gegen Vorurteile anzukämpfen.
Und, Hugo Stamm, wie viel ist denn ein palästinensisches Leben Wert?
Exakt gleich viel wie ein „christliches" oder „jüdisches". Mir behagen die Menschenrechte wesentlich besser als religiöse Werte und Normen. Diese sind immer von Glaubensvorstellungen geprägt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass viele Konflikte eine religiöse Komponente besitzen.
Viele jüdische Menschen sind nicht bereit, Kritik an Israel zu akzeptieren, kontern rasch mit dem Antisemitismus-Vorwurf. Können Sie das nachvollziehen?
Israel sollte beim Konflikt mit den Palästinensern historische, politische und menschliche Aspekte in den Vordergrund stellen. Das Trauma des Holocaust sollten sie bei der Lagebeurteilung und Festlegung der Strategie nicht ins Kalkül einbeziehen. Vielmehr sollten die Erfahrungen mit der Shoa ihre Empathie fördern: Kein anderes Volk weiss besser, was es heisst, zu leiden. Deshalb sollten sich viele Israeli einfühlen können, was der Gaza-Krieg für die lokale Bevölkerung bedeutet. Man erhält aber nicht den Eindruck, dass die israelische Armee besonders Rücksicht auf Zivilpersonen – speziell alte Menschen, Frauen und Kinder – genommen hat.
Bei den israelischen Parlamentswahlen ist ein deutlicher Rechtsrutsch festzustellen: Inwiefern spielen Religionen eine Rolle bei der Radikalisierung einer Gesellschaft?
In einer säkularisierten Welt sind die meisten Glaubensgemeinschaften rückwärts gewandt, konservativ oder reaktionär. Der Zeittrend geht an ihnen vorbei. Ihr Einfluss schwindet, weshalb sich etliche radikalisieren.
Westliche Medien bezeichnen die Hamas-Bewegung rasch einmal als radikalislamisch. Wie erleben Sie Berichterstattung von uns Nahost-Korrespondenten, bieten wir genügend Brückenfunktion, genügend Einordnung für das Verständnis für das „andere"?
Bei der Berichterstattung über bewegende Ereignisse lassen wir uns gern von Gefühlen leiten. Bei Bildern über sterbende Kinder, bombardierte Spitäler und flüchtende Familien interessieren uns die politischen Hintergründe nur in zweiter Linie. Deshalb ist es in der Berichterstattung wichtig, Ursachen und Hintergründe aufzuzeigen. Es gibt bei jedem Konflikt zwei Seiten. Doch bewegende Bilder wirken immer stärker als nüchterne Analysen. Umso wichtiger sind solche Berichte, die Brücken bauen.
Hugo Stamm, was wird Sie in den nächsten Wochen journalistisch beschäftigen?
Ich schreibe einen Artikel über Bioresonanz. Das ist ein umstrittenes Gerät zur Therapie vieler Krankheiten. Ausserdem recherchiere ich über eine Psychosekte, welche ihre Anhänger mental abhängig macht und von der Familie isoliert.
Die Menschenrechts-Organisatio n Huma [...]